Ehrlichstett, 2017, 16 Uhr 42

 

Desi und Dieter sind auf der Nordkoppel, bei den Jungpferden. Sie flicken den Zaun und wollen danach gleich nach Hause fahren. Lang genug der Tag. Nein, sie haben Henry und Hund nicht gesehen.

Corinne geht nicht ans Telefon.

Als sie zu Greta hochlaufen öffnet die nach einer gefühlten Ewigkeit die Tür. Ihr Blick ist fahrig und unstet und sie weicht sofort zurück in den Hausgang.

„Scheiße,“ murmelt Tammi, „sie hat einen Anfall!“

Jakob sieht sie fragend an.

“Sie hat Agoraphobie, sie kann nicht raus. Das ist ein Anfall,“ wiederholt Tammi leise, als sie die Tür mit Druck aufschiebt und schnell ins Haus schlüpft.

Jakob springt hinterher und zieht die Haustür zu.

Der Flur liegt im Dunkel und sie gehen Greta nach, die bis ins Wohnzimmer zurückgewichen ist. Hier sind die Fenster verhängt und nur in der Ecke glimmt eine kleine Lampe. Greta liegt nun schwer atmend auf der Couch, ein Schweißfilm auf ihrer Stirn.
„Greta“ drängt Tammi ungeduldig „wir suchen Henry, hast du ihn gesehen? Und Hund?“

Greta holt hörbar tief Atem und schüttelt den Kopf. Sie holt erneut gurgelnd Luft und stammelt unverständliche Silben vor sich hin.

„Greta!“ Tammi wird lauter und greift nach ihrer Schulter „Greta hör mir zu!“
„Tammi, lass es,“ Jakob zieht sie zurück. „Du siehst doch, dass sie kaum bei sich ist. Sie kann uns nicht helfen!“
„Der Tag ist da!“ Kommt plötzlich Gretas Stimme hohl und brüchig, aber klar verständlich „Der Tag der Weltenweiche, der Tag des Meisters, der Meister ist da, der Meister ist hier und seine Kraft kommt zur vollen Blüte!“ Ihre blassen Augen weiten sich und starren auf die Wand hinter Tamara und ein verzücktes Lächeln legt sich auf ihre Züge.

Tamara ist versucht, sich umzudrehen, weiß aber, dass da nichts zu sehen ist.

„Greta verdammt,“ schreit sie nun. “Lass diesen Scheiß! Henry ist weg! Wir suchen Henry!“

Jakob greift wieder nach ihrem Arm und will sie zurückziehen, als Gretas Stimme erneut ansetzt, klar diesmal und deutlich, dröhnend und getragen, der Blick noch immer starr auf die Wand hinter Tamara gerichtet.

„Die Flammen reinigen die Stätte.“ Sagt sie „Die Flammen reinigen die Stätte und der Fluch erlischt. Der Rabenstein, der Stein des Meisters öffnet sich und seine Kraft dringt ungehindert hervor, die Stunde des Meisters ist da und die Weltenuhr wird auf Null gestellt. Die Kraft des Meisters reinigt und erneuert und der reinen Herzens ist rettet und verbindet die Welt von gestern und von morgen. Die Zeitenwende ist da und die Kraft des Meisters ist mit Euch!“

Ihre Stimme erstirbt und ihre Augen schließen sich. Ihr Kopf sackt zurück in die Polster.

Eine Moment verblüffter Stille entsteht, in dem Tamara sich jedoch in Jakobs Griff stemmt, um zu Greta zu gelangen.

Plötzlich ertönt ein Kratzen von der Tür, ein Kratzen und ein hohes Winseln.

„Hund!“

Tamara und Jakob stürzen gleichzeitig den Flur hinunter und reißen die Haustür auf. Der kleine schwarze Hund springt an Tamara hoch. Hund, Hund ist da! Aber keine Spur von Henry.

Der kleine Hund springt die wenigen Stiegen an der Haustür hinab und läuft die Einfahrt hinunter. Er bleibt stehen und sieht sich um, sieht sie an, kommt zurück, springt Tammi an und wieder die Stiegen hinunter, hoch und wieder runter.

„Das ist wie bei Lassie!“ Sagt Jakob“ der will uns was zeigen! Wetten?“

„Klar, Lassie! Du spinnst,“ sagt Tammi, aber sie gehen los.

Beide gehen sie los, sie gehen.

Sie laufen, sie rennen, Hund hinterher, der ihnen unbeirrbar den Weg weist.

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